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Auszug "Cinecittà aperta" von René Pollesch |
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Tr: Warum liegt der Tod bei mir in der Mitte des Lebens, du spinnst wohl!
INGA: Alles ist immer und fortwährend strategisch offen. D a s ist Geschichte, der Zufall und die offenheit der Kräftekonstellationen, aus denen wir uns dann zusammensetzen.
Ich würde ja alles für dich tun, sagt der Vater in Deutschland im Jahre Null, aber er gibt dem Sohn mit seinem Jammern immer nur die Herkunftsgeschichte weiter. Es geht nämlich nie um das was er tun könnte, sondern nur um das was er da an Vater und Sohn-Geschichte reproduziert. Daß die eben alles für ihre Kinder tun. Aber die tuns ja nicht, die liegen ja krank im Bett rum. Wir kriegen keine Kinder, das einzige was wir fortpflanzen ist die ewig gleiche Geschichte über uns. Und die ist jetzt, aufgepasst, nicht die von Deutschland im Jahre Null, sondern die ahistorische Vater und Sohn-Geschichte. Kinder kann es ja geben von mir aus, aber nicht mehr diese Vater-Sohn-Geschichte. Und so ist es auch mit dem Humanismus. Der ist es der dauernd fortgepflanzt wird und nicht die Wesen, die geboren werden. Die sind nämlich hier und jetzt. Und dieses hier und jetzt ist kein carpe diem-Scheiß oder sentimental, die letzten Sekunden mit dem und dem zu verbringen, sondern die wahre Geschichte. Die Geschichte der Gegenwart. Und hier wird auch nicht die Vergangenheit kritisiert und der Umgang damit, sonder das Naturgewordene: der Mensch, der Kapitalismus etc. der hängt dann an den Wesen dran, die sich dauernd ihr Menschsein erzählen müssen.
MARTIN: In einem Bild der geschichte, die immer als unsere Geschichte erzählt wird zeichnet sich keine Gestalt unseres Wesens ab, das hab ich immer vermutet, dass die Historie nichts mit mir zu tun hat. Und d a s ist Darwin. Die Erkenntnis, dass die Historie nichts mit mir zu tun hat. Woher ich komme, kann mir Darwin erklären, aber nicht die Geschichte. Nicht Deutschland im Jahre Null. Und wie Rosselini das will, lernt auch kein Kind Lebensfreude aus dem Ausgang der Geschichte. Die Lebensfreude ist das Ergebnis von strategisch offenen Kräftekonstellationen und nicht die Väter, und nicht die Mütter. Woher ich komme, das bedeutet nichts, wenn ich sehe wie meine Mutter ihre Wesenheit ändert im Sterben, ich sehe sie diskontinuierlich, zufällig etwas anderes werden. Das ist der Tod und das ist der Schwarzmarkt. Das ist die Errungenschaft eine Personenwaage an den Mann zu bringen. Das ist nicht die Geschichte, das ist nicht der Tod, das ist der Körper hier und jetzt. Und das hier und jetzt darf niemals sentimental verstanden werden.
TINE: Daß es das Glück nicht gibt, kann man in einem Film nicht sagen. Der Film als Medium ist auf Glück aufgebaut.
Tr: Dieses Bild von Pauline Boetzke sagt immer, es gibt das Glück. Irgendwann. Wenn man seine Lebensmittelkarte hat und wenn man angemeldet ist beim Meldeamt. Aber diese Kontrolle über unser Funktionieren ist es doch, die immer sagt: es gibt einen Sinn des Lebens, des Menschen. Seine Natur: Kinderkriegen oder der Kapitalismus. Aber das Funktionieren dieses Organismus ist völlig sinnlos. Und das ist doch eine Errungenschaft.
Die wollen alle das Glück des Menschen. Aber den gibt es vielleicht nicht mehr. Und es kann keine Kritik daran geben, dass nicht alle Menschen zu ihrem Glück kommen. Es müsste zu dem entscheidenden Punkt kommen, dass es vielleicht den Menschen nicht mehr gibt. Und damit erledigt sich auch das Glück. Es gibt diesen Organismus, der funktioniert. Auch im Sterben.
Der Text wurde bei der Preisverleihung am 14. Juni 2009 in einer szenischen Lesung von Autor und Regisseur René Pollesch und den Schauspielern Inga Busch, Martin Laberenz, Trystan Pütter und Katja Bürkle (eingesprungen für Christine Groß) präsentiert und ist ein Auszug aus dem zweiten Teil der Ruhrtrilogie, Cinecittà aperta, der am Freitag, den 19. Juni, beim Mülheimer Ringlokschuppen Premiere hatte. In Form und Orthographie des Textes wurde nicht eingegriffen.